Ludwigswinkel Ortsmitte

(Geschrieben ca. 2007 - Überarbeitet 2018)

 

In Ludwigswinkel gibt es ungewöhnlich viele romantische Brunnen. Sie werden vom sauberen Trinkwasser der Rösselsquelle gespeist. Einige der Brunnenbecken sind noch aus alter Zeit und aus Eisen.
 

Der Wunschring 

Helene saß am Fenster und nähte. Sie war erst 14 Jahre alt. Aber damals, vor 100 Jahren, waren die Familien in dieser Gegend so arm, dass schon die Kinder mitarbeiten mussten. Helenes Eltern waren einfache Leute. Vom frühen Morgen bis in die Nacht schufteten sie auf dem Feld, im Wald oder im Stall. Dennoch reichte es kaum zum Leben. Jede Hand wurde gebraucht.

Immer gab es für Helene Strümpfe zu stopfen oder Kleider zu verlängern. Ihre Geschwister liefen zwar im Sommer barfuß, um Socken und Schuhe zu sparen, und die Kleinen trugen ausschließlich die Kleidung der Größeren auf. Aber dennoch mussten sich die Eltern ständig Sorgen machen, was ihre viel zu schnell wachsenden Kinder anziehen sollten. 


Helene hatte seit fünf Jahren kein neues Kleid mehr bekommen. Dabei war sie schon fast erwachsen! Aber es fehlte einfach das Geld. Die Mutter hatte ihr gezeigt, wie man mit Stoffresten ein Oberteil verlängern oder eine bunte Rüsche an einen zu kurzen Rock nähen kann. Doch hübsch sah ihr Kleid nun wirklich nicht mehr aus! Alles war angestückelt und geflickt! Aber es hatte immerhin keine Löcher, und Helene passte hinein. Das musste genügen.  

Dennoch träumte sie heimlich von einem neuen Kleid. Ach, wenn sie nur eines zu Weihnachten bekäme! Ein ganz neues, ohne jeden Flicken! Aber Helene wusste, dass diese Hoffnung vergeblich war. 

Ein paar dicke Tränen liefen ihr über die Wangen. Autsch! Jetzt hatte sie sich auch noch gestochen! Kein Wunder, denn es war schon fast dunkel, und sie konnte kaum noch den Stoff erkennen. Aber die Petroleumlampe durfte sie erst bei völliger Finsternis anzünden. Traurig ließ sie ihre Arbeit einen Moment ruhen und schaute zum Fenster hinaus.  



Draußen im Dämmerlicht lag die leere Dorfstraße. Ins schwarze Eisenbecken des Brunnens plätscherte das Wasser. Doch was war das? Ein freundliches Licht schwebte um den Brunnen herum! Es war nicht das Licht einer Laterne. Nein, es war eine wunderschöne, von innen heraus leuchtende Frau! Eine Fee! Helene stürzte die Treppen hinunter und lief auf den Brunnen zu. Die Fee lächelte freundlich und hielt ihr auf der offenen Hand etwas hin. Helene aber traute sich nicht näher heran. Zu unheimlich war ihr diese durchscheinende, leuchtende Frau. Die Fee lächelte noch immer und legte das Etwas auf den Brunnenrand. Danach wurde ihr Umriss durchsichtiger und ihr Licht blasser und blasser. Ein paar Augenblicke später war sie verschwunden. 

Zögernd schlich Helene näher und entdeckte einen feinen Goldring! Einen wunderschönen, echten Goldring mit einem leuchtenden Edelstein! Helene war fassungslos. Überglücklich steckte sie ihn ein und lief schnell zurück zu ihrer Arbeit. Wie leicht ihr das Nähen nun fiel! Sie nähte und nähte und stopfte anschließend noch sämtliche Löcher in den Socken der Familie.  

Es war schon Nacht, als sie müde, aber glücklich ins Bett fiel. Endlich konnte sie heimlich noch einmal ihren goldenen Ring betrachten! Wie überirdisch fein er gearbeitet war! Wie er funkelte und glänzte! Helene zog ihn an und streichelte ihn. Sie drehte ihn hin und her und schaute auf ihre Hand. „Ach, wenn ich nur auch ein neues Kleid bekäme!“, seufzte sie. Im selben Moment blitzte der Ring strahlend hell auf. Und schon lag ein wunderschönes neues Kleid auf ihrem Bett! Helene schrie vor Schreck und Glück auf.

Schon wachten ihre Eltern auf und kamen herbei gelaufen. Aber sie schimpften nicht, sondern wurden ganz still und andächtig beim Anblick der wunderbaren Geschenke der Fee.

Ganz sicher war dies ein Wunschring! Gewiss hatte Helene drei Wünsche frei! Vielleicht wäre es aber besser für sie, wenn sie im Dorf nichts davon erzählte. Das Kleid könnte sie offiziell als Weihnachtsgeschenk bekommen. Das fiele nicht so sehr auf. Die anderen beiden Wünsche aber sollte sie sich für wichtigere Dinge aufheben. 

Ein paar Jahre vergingen. Helene war eine hübsche, junge Frau geworden und hatte sich verliebt. Doch ausgerechnet in den begehrtesten Burschen des Dorfes! Dass er auch der reichste war, störte sie mehr, als es sie freute. Denn so ein gut gestellter Bursche würde sicher kein armes Mädchen wie sie nehmen. Aber sie liebte ihn. Ihr Johannes hatte so eine nette, freundliche Art und machte stets fröhliche Späße. Er war fleißig, zuverlässig und hilfsbereit und sah mit seinen schwarzen Locken einfach traumhaft gut aus!  Aber er war nicht nur nett zu ihr, sondern zu allen. Denn verliebt hatte er sich noch nicht.

Wie sollte sie nur seine Liebe gewinnen? Schließlich waren alle Mädchen des Dorfes hinter ihm her.

So drehte sie eines Abends ihren Wunschring: „Lieber Ring, ich wünsche mir, dass sich Johannes in mich verliebt und wir heiraten und glücklich werden.“ Kaum hatte sie den Wunsch ausgesprochen, leuchtete der Ring hell auf. Helene war überglücklich. Sie wusste, dass ihr großer Wunsch in Erfüllung gehen würde.

Und so kam es. Ein Jahr später heiratete sie ihre große Liebe Johannes. Die beiden wurden sehr glücklich miteinander und bekamen im Laufe der Zeit drei Kinder. 

Helene lebte so zufrieden und froh, dass sie ihren Wunschring fast vergaß. Allerdings trug sie ihn immer noch bei sich. Aber sie hatte sich früh entschieden, ihren letzten kostbaren Wunsch gut aufzuheben. Denn wer weiß, ob nicht einmal ein größeres Problem in ihrer Familie auftauchen würde? 

Eines Tages zogen Zigeuner durchs Tal. Es war eine bitterarme Familie mit fünf kleinen Kindern. Das jüngste war noch ein Baby. Der Vater verdiente sich ein paar Pfennige als Scherenschleifer. Er schärfte die Messer der Leute und bekam dafür manchmal auch nur ein Stück Brot oder ein paar Kartoffeln. Viel kam nicht zusammen. Der Mann und die Kinder sahen blass und hungrig aus. Aber richtig krank und ausgemergelt war die Mutter.

Plötzlich, am zweiten Tag, kam ein Zigeunerkind zu Helene gerannt. Die Mutter konnte nicht mehr aufstehen. Jämmerlich und todkrank lag sie auf ihrem Lager. Hilfesuchend schaute sie Helene mit angstvoll aufgerissenen Augen an. Wahrscheinlich musste sie sterben. Mit letzter Kraft flüsterte sie: „Meine Kinder! Was wird aus meinen Kindern?“

Helene brach es fast das Herz. Kurz entschlossen nahm sie ihren Wunschring aus der Tasche, drehte ihn und wünschte, dass diese arme Frau wieder gesund würde und ihre Familie leichter durchs Leben käme. Der Ring blitzte hell auf. Ein überirdisch schöner Schein umgab ihn. Doch Helene hatte diesmal keine Zeit, sich daran zu freuen. Jetzt müsste erst einmal etwas zu essen her!

Als sie wenig später mit einem vollen Korb zurückkam, traute sie ihren Augen nicht: Die Mutter saß bereits aufrecht im Bett und hatte wieder Farbe im Gesicht. Ein Wunder!

Doch Helene erlebte noch ein zweites Wunder: Hinter dem Krankenlager der Frau stand die Fee! Sie lächelte. Sie war von einem goldenen Licht umgeben und strahlte vor Liebe und Freude! Ganz leise flüsterte sie: „Ich wusste doch, dass du meines Wunschrings würdig bist. Du hast nicht nur etwas für dich haben wollen, sondern auch geteilt. Darum segne ich dich und deine Familie lebenslang – und diese armen Leute hier ebenfalls.“ 

Damit verschwand die Fee. Ihr goldenes Leuchten aber breitete sich im ganzen Dorf aus. Die Leute wunderten sich: „Was für ein goldenes, überirdisch schönes Licht heute scheint!“ Und sie fühlten sich glücklich und reich. Das lag am Segen der Fee.